Mehr als 6.000 Werbebotschaften prasseln täglich auf uns ein. Nur ein Bruchteil davon nehmen wir aktiv wahr. Der Rest geht in einem Grundrauschen unter. Wir leben im Zeitalter des Information Overload. Das Rettungsboot in dieser Informationsflut nennt sich Storytelling.
Längst ist der Begriff „Storytelling“ in der Kommunikation und vor allem im Content-Marketing zum Modewort avanciert. Die Gefahr einer Beliebigkeit inbegriffen. Denn nicht überall, wo Emotionen geweckt und Geschichten erzählt werden, steckt Storytelling drin. Doch was genau verbirgt sich dahinter und was macht gutes Storytelling aus? Hier gibt’s Antworten.
Storytelling, was ist das?
Das Zeitalter des Information Overload ist geprägt von der Konkurrenz um Aufmerksamkeit. Der Zielgruppe muss ein Mehrwert geboten werden, damit sie sich die Zeit für eine Botschaft nimmt. Denn die Auswahl an Content ist enorm groß, der Anspruch an Inhalte extrem hoch.
In Zahlen übersetzt heißt das: 2,5 Sekunden. Mehr Zeit bleibt nicht, um zu überzeugen. Gelingt es nicht innerhalb dieser Frist, zieht das Gros der Menschen zur nächsten Website, zum weiteren Video oder zum neuen Artikel weiter.
Entsprechend verfliegen Plattitüden wie „Wir sind die tollsten“ oder „Billiger wird’s nicht“. Das kann jeder behaupten. Was es braucht, sind packende Inhalte. In den Mittelpunkt der Unternehmenskommunikation rücken damit fesselnde Geschichten mit Unterhaltungswert. Das Produkt verbirgt sich dezent im Hintergrund; die eigentliche Werbeaussage wird vom Hero zum Sidekick.
Die Wirkung von Storytelling
„Wir sind ein familiengeführter Reifenhersteller mit langer Tradition und 250 Mitarbeitenden. Unsere Produkte finden sich auf allen Kontinenten in unzähligen Bereichen – von der Automobilherstellung bis hin zur Zahnradfertigung.“
„Peng. Schon wieder ein Platten. Unser Großvater hatte die Nase voll. Er ließ den Drahtesel am Baum stehen, dessen Knospen gerade hervorkrochen. Den gesamten Sommer über verkroch er sich in seine Garage. Selbst das Mittagessen scheuchte ihn nicht von seinem Arbeitsplatz hoch. Nur das Schläfchen am Nachmittag blieb ein festes Ritual. Als der erste Schnee fiel, kam er aus der Garage. Im Gepäck ein unkaputtbarer Reifen. Die Erfindung legte den Grundstein für unsere heutigen Produkte. Seither treiben wir die Welt an – mit ungebrochenem Erfindungsgeist seit 250 Jahren.“
Merkst Du was?
Wie in diesem fiktiven Beispiel weckt eine gute Geschichte Emotionen. Viel eher als das Aufzählen von trockenen Zahlen, Statistiken und anderer Fakten. Durch das Storytelling bleiben Informationen und Botschaften im Kopf – auch wenn sie nur unterschwellig vermittelt werden.
Die Begründung dafür ist simpel: Unser Gehirn liebt aus evolutionären Gründen Geschichten. Sie waren Tausende Jahre die einzige Möglichkeit, Begebenheiten über lange Strecken zu verbreiten und für die Nachwelt festzuhalten. Dopamin und andere Neurotransmitter werden daher freigesetzt, wenn wir eine gute Geschichte hören. Diese positiven Gefühle macht sich das Marketing beim Storytelling zu Nutze.
Wie am Lagerfeuer altertümlicher Stammesgesellschaften gilt auch heute noch, dass beim Geschichtenerzählen der Spannungsaufbau entscheidend ist. Durch geschicktes Setzen von Höhepunkten und Wendepunkten wird der Leser und die Leserin in die Geschichte hineingezogen und die Neugierde geweckt. Dadurch bleibt die Aufmerksamkeit bis zum Ende hoch. Deswegen: Mehr Inhalt, weniger Werbung wagen.
Wie funktioniert Storytelling?
Ein brillantes Beispiel für gelungenes Storytelling zeigt Mercedes-Benz:
Der Werbefilm steht Pate für die wesentlichen Elemente guten Storytellings.
Die Heldenreise im Storytelling
Die Heldenreise ist so alt wie das Geschichtenerzählen an sich. Das heißt nicht, dass sie alt ist, sondern vielmehr bewährt. Die Kernelemente der Heldenreise sind:
1. Protagonist*in
Es gibt eine Identifikationsfigur, die eine Verbindung zum Gegenüber herstellt. In diesem Fall Bertha Benz, die Frau des Automobilpioniers Carl Benz. Sie unternahm die erste Fernfahrt mit einem Auto und trug damit wesentlich zum Erfolg der neuen Erfindung bei.
2. Konflikt
Die Geschichte beschreibt einen leichtverständlichen Konflikt, den es zu lösen gilt. Bei Bertha Benz ist es die Suche nach Treibstoff für ihr Fahrzeug. Und das in einer Zeit, in der es noch keine einzige Tankstelle gibt.
3. Lösung / Appell
Die Lösung des Konflikts beinhaltet zugleich eine authentische Botschaft an die Zuschauer*innen. Im Video von Mercedes-Benz ist es die Losung: Du kannst alles schaffen, auch wenn es vor dir bisher niemand versucht hat.
Zugleich präsentiert sich der Automobilhersteller als Pionier. Die Botschaft: Moderne Mobilität ist ohne Mercedes nicht denkbar. Dafür muss im Video kein einziges neues Modell gezeigt werden. Der dreirädrige Benz Patent-Motorwagen Nummer 3 von 1888 reicht. Das ist clever und überzeugend.
Storytelling als Strategie
Womit wir auch bei einem der wichtigsten Punkte erfolgreichen Storytellings sind: Kontinuität. Jede Geschichte muss sich in eine übergreifende Strategie einfügen. So entfalten sie die größtmögliche Kraft. Oder, in den Worten der Marketing-Expertinnen Miriam Löffler und Irene Michl: „Storytelling bedeutet keineswegs, dass man einfach bloß einmal eine gute Geschichte in die weite Welt streut. Ein schönes Video, eine packend formulierte Unternehmensgeschichte oder eine anschaulich präsentierte Produktstory sollten nicht mehr als ein Teil einer übergeordneten, großen Story sein, die sich über die Jahre hinweg entwickelt: Alle sogenannten Mikrogeschichten spinnen diesen einen langen roten Faden weiter.“4
Um das zu erreichen, braucht es keine über 100-jährige Geschichte wie bei Mercedes-Benz. Noch weniger muss eine technische Revolution Bestandteil der eigenen Story sein. Passende Geschichten lassen sich zuhauf in jedem Unternehmen finden – egal ob groß oder klein.
Ideen fürs Storytelling
Golden Circle von Simon Sinek
Erfolgreiches Storytelling basiert auf den Erkenntnissen von Simon Sinek, die er 2009 in einem berühmten TED-Talk vorgestellt hat. Darin geht der Unternehmensberater der Frage nach, warum manche Unternehmen erfolgreicher sind als andere.
Zusammengefasst sieht Sinek den Grund dafür in einer wesentlichen Erkenntnis: Alle großen Persönlichkeiten und innovativen Unternehmen rücken das Warum und nicht das Was in den Mittelpunkt ihrer Betrachtung. Es geht ihnen nicht primär um ihr Angebot, sondern darum, warum sie etwas tun.
Seine Untersuchungsergebnisse fasste Sinek im Golden Circle zusammen:
Heruntergebrochen auf erfolgreiches Storytelling bedeutet das: Im Zentrum der Geschichte steht eine übergeordnete, emotionale Botschaft. Neudeutsch: Purpose. Auf dieses warum folgt das wie: Wie schaut die Strategie aus, um das Warum zu erreichen. Erst im dritten Schritt kommt das Produkt ins Spiel. Es ist das Vehikel auf dem Weg zum Warum.
Die Schuhmarke Tamaris beispielsweise stellt auf ihrem YouTube-Kanal echte Frauen in den Mittelpunkt. In den Videos spielen die Produkte nahezu keine Rolle, sondern die Lebenswirklichkeit, die Bedürfnisse und die Herausforderungen der Protagonistinnen:
Die Antworten auf die Fragen des Golden Circle in Bezug auf die Tamaris-Kampagne lauten:
- Warum: Verständnis für die Lebenssituation moderner Frauen entwickeln
- Wie: Echte Frauen berichten aus ihrem Alltag
- Was: Bekanntheit und Reichweite der Marke nutzen, um das Verständnis für die Situationen von Frauen zu schärfen
Damit schafft die Schuhmarke eine emotionale Verbindung zu ihren (potenziellen) Kundinnen und baut Vertrauen auf. Das Credo lautet: Wir hören euch zu und verstehen euch. Entsprechend können wir für euch die besten Produkte entwerfen.
Schlussendlich zahlt der YouTube-Kanal von Tamaris auf die Bekanntheit und das Image der Schuhmarke ein – ohne ein einziges Produkt direkt zu nennen.
Storytelling und Content-Marketing
Womit klar wird, dass die Auswahl und Aufbereitung stark davon abhängt, an welcher Stelle der Customer Journey die Story veröffentlicht werden soll. Dreht es sich um Aufmerksamkeit für die Marke oder um den Kauf eines konkreten Produkts? Sollen Loyalitäten geschaffen oder die Marke mit einem bestimmten Image verbunden werden? Erst wenn diese übergeordneten, strategischen Fragen des Content- Marketings geklärt sind, kann die Suche nach einer passenden Story beginnen.
Gleichzeitig bietet jedes Unternehmen einen reichhaltigen Fundus an möglichen Geschichten. Das können Storys von Kundinnen und Kunden oder von Mitarbeitenden sein, die über ihren persönlichen Weg ins Unternehmen berichten. Auch neue Erfindungen und deren Entstehungsprozess oder außergewöhnliche Produktionsmethoden lassen sich hervorragend für das Storytelling nutzen. Was es schlussendlich braucht, sind Kreativität, journalistisches Gespür und eine übergeordnete Content-Strategie.
Allerdings herrscht in manchen Unternehmen eine gewisse Betriebsblindheit vor, wenn es um einprägsame, konsistente und einzigartige Geschichten geht. In solchen Fällen ist es durchaus sinnvoll, sich externe Unterstützung in Form von Freischaffenden oder Agenturen ins Boot zu holen.
Storytelling-Beispiele in Textform
Für die Verbreitung von Geschichten eignen sich Filme hervorragend. Videos arbeiten mit Bildern und Ton, während Texte „nur“ auf visuelle Reize setzen können.
Aus meiner Sicht haben geschriebene Storys aber drei wesentliche Vorteile:
- Überfliegen, zurückblättern, Sätze markieren: Lesen ermöglicht mehr Kontrolle über das Tempo als Videos schauen.
- Lesen erfordert eine höhere Konzentration und Vorstellungskraft. Entsprechend können Texte nicht einfach nebenbei konsumiert werden, während man andere Sachen macht. Im besten Fall bleiben Inhalte so stärker im Gedächtnis haften.
- Kein Bild, keine Story. Manche Geschichten fallen deswegen für eine filmische Aufbereitung komplett aus. Texte sind in der Hinsicht flexibler. Details sowie komplexe und abstrakte Informationen lassen sich einfacher aufgreifen und wiedergeben.
Wie hervorragendes Storytelling in Textform gelingt, zeigen diese drei Beispiele aus den Bereichen B2B, B2C und der Verbandskommunikation:
Kaleidoskop: Das Magazin der Würth-Gruppe
Wer denkt, B2B-Kommunikation lebt nur von Whitepapers, Statements und News, irrt. Auch in dem Bereich der Geschäftskommunikation kommt mehr und mehr das Storytelling zum Einsatz. Die Erkenntnis dahinter ist einfach wie schlüssig: Gerade in Märkten mit hoher Konkurrenz und geringen Qualitätsunterschieden bei den Produkten kommt es auf eine Emotionalisierung der Kundenbeziehungen an. Wer es schafft, sein Angebot mit einer positiven Botschaft und Image zu verknüpfen, kann sich langfristig auf dem Markt behaupten und höhere Preise verlangen. B2B folgt hier derselben Logik wie B2C.
Doch machen wir es konkret: Die Würth Gruppe ist Marktführer in der Entwicklung und Herstellung von Montage- und Befestigungsmaterialien. Der Großhändler richtet sich explizit an Handwerker*innen und Industriebetriebe.
Bis 2022 veröffentlichte das Familienunternehmen aus Deutschland das Magazin Kaleidoskop. Neben News, Rezepten und Interviews mit Expert*innen und Führungskräften gibt es Reportagen aus dem Arbeitsalltag von Mitarbeitenden und Partnern. So wird beispielsweise in „Der Mann im Eis“ Claus Hassing porträtiert. Er ist Würths einziger Außendienstmitarbeiter in Grönland. Die Botschaft: Selbst in abgelegensten Orten wird auf die Produktvielfalt von Würth gesetzt.
Vaude Stories: Natur erleben
Vaude gilt als Pionier im Bereich nachhaltiger Outdoorbekleidung. Ein Großteil des Budgets fließt deswegen in die Erforschung recycelbarer Ausgangsstoffe und die Entwicklung umweltfreundlicherer Produkte. Für ausgedehnte Marketingkampagnen bleibt da wenig übrig.
Die Marke aus dem baden-württembergischen Tettnang-Obereisenbach macht aus der Not eine Tugend und lässt Kundinnen und Kunden unter anderem auf dem unternehmenseigenen Blog zu Wort kommen. Das Ergebnis sind authentische Geschichten, welche die Lust auf Natur, Abenteuer und Sport und damit auf die Produkte von Vaude wecken. Authentischer geht es kaum.
IGBCE Profil: Magazin für Arbeit und Leben
Im Jahr 2023 hat die Gewerkschaft für Bergbau, Chemie und Energie ihre Mitgliederkommunikation auf neue Beine gestellt. Herausgekommen ist Profil. Das Magazin erhebt den Anspruch, seinen 580.000 Mitgliederinnen und Mitgliedern Qualitätsjournalismus zu bieten. Mit Erfolg: Profil erhielt jüngst den renommierten European Magazine Award 2024 in der Kategorie Relaunch.
Bestandteil des Magazins sind neben Neuigkeiten zu der Gewerkschaftsarbeit und Serviceartikel auch Reportagen aus Betrieben und Landesverbänden. Hier greift man auf das Storytelling zurück, um die Vielfalt der IGBCE zu demonstrieren und Lust auf die Arbeit der Gewerkschaft zu machen. Ein Paradebeispiel dafür ist der Artikel „Angst um die Ewigkeit“, eine Reportage aus dem von der Schließung bedrohten Chemiepark Gendorf.
Ausblick: Personalisiertes Storytelling mit KI
Storytelling lebt von menschlichen Erfahrungen, Meinungen und Emotionen. Bekanntermaßen ist Künstliche Intelligenz (KI) in allen drei Belangen nicht wirklich gut. Die Aneinanderreihung von Wörtern nach Wahrscheinlichkeiten erzeugt eher generische Aussagen als individuelle Jubelschreie. Was nicht heißt, dass Künstliche Intelligenz das Storytelling nicht unterstützt. So ist die Technologie äußerst hilfreich bei der Ideenfindung, der Entwicklung einer Storyline, beim Recherchieren von Fakten und dem Redigieren von Texten.
Beim Storytelling der Zukunft – und hier sehe ich den interessantesten Anwendungsfall – wird KI zu einem individuelleren Nutzungserlebnis beitragen. So ist die Technologie hervorragend darin, aus wenigen Informationen passende Muster abzuleiten. Aus existierenden User-Daten wie Verweildauer, Zeitpunkt, Plattform und Standort werden so individuelle Empfehlungen.
Bei Streaming-Diensten ist diese Art der personalisierten Vorschläge längst etabliert. Anhand des vergangenen Sehverhaltens werden automatisch Serien und Filme den Nutzer*innen angezeigt. Auch Spotify kennt die Vorlieben der User genau, um ihnen darauf aufbauend individualisierte Musikvorschläge zu unterbreiten.
Diese Logik kann auf Blogs und Online-Magazine übertragen werden. Besucher*innen sehen keine einheitliche Startseite mehr. Vielmehr wählt eine KI bereits von Beginn an auf die jeweilige Person zugeschnittene Themen und Geschichten aus. Das Ergebnis ist ein personalisiertes Storytelling.
Auf die damit verbundenen Gefahren kann hier nur am Rande hingewiesen werden. Da sind zum einen die Verfestigung von Bubble-Strukturen. Denn die KI wird nur das ausspucken, was wir mögen. Und das sind nun mal Sichtweisen, die unsere Einstellungen bestätigen. Auch Datenschutz-Aspekt und die damit verbundene Notwendigkeit, Informationen zu anonymisieren, spielen eine wesentliche Rolle beim personalisierten Storytelling.
Fazit: Storytelling als Methode
Storytelling ist ein wirkungsvolles Mittel, um Menschen zu inspirieren, emotionale Bindungen herzustellen und Markentreue aufzubauen. Durch das Erzählen von Geschichten, die die Werte der Marke widerspiegeln und die Bedürfnisse der Zielgruppen ansprechen, stechen Unternehmen aus dem kommunikativen Grundrauschen hervor und erzeugen eine positive Resonanz.
Allerdings reicht es nicht aus, tolle Storys zu finden und diese kreativ aufzubereiten. Vielmehr muss die Geschichte den roten Faden einer einheitlichen Unternehmenserzählung weiterspinnen. Zugleich muss klar sein, an welcher Stelle der Customer Journey sie veröffentlicht wird. Nur wenn die Storyline, die Botschaften und die Sprache der Geschichte klar darauf abgestimmt sind, kann Storytelling sein volles Potenzial entfalten.
Fußnoten
1. http://webtribunal.net/blog/how-many-blogs
3. https://www.onetoone.de/artikel/db/746433jg.html
4. Miriam Löffler, Irene Michl: Think Content, S. 440
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